Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 26

Titel
Diplomatische Dokumente der Schweiz.


Herausgeber
Zala, Sacha; u.a.
Reihe
Band 26 (1.1.1973 bis 31.12.1975)
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
von
Philip Rosin, Abteilung Zeitgeschichte, Konrad-Adenauer-Stiftung

Die erste Hälfte der 1970er Jahre war eine Phase forcierten und nachhaltigen Wandels in der Weltpolitik und in Europa, was heute im Rückblick auf die Ölkrise 1973 etwa mit dem «Schock des Globalen» und dem «Ende des Booms» umschrieben wird. Diese Jahre waren zugleich aber auch die Hochphase der Entspannungspolitik zwischen Ost und West und eine Epoche des gefühlten internationalen Aufbruchs, was auf der Ebene der Supermächte mit den Besuchen von US-Präsident Nixon in Moskau und Peking, dem Ende der US-Beteiligung am Vietnamkrieg und der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki zum Ausdruck kam.

Das Bild vom aussenpolitischen Wandel trifft auf der Mikroebene auch auf die Eidgenossenschaft zu. In den frühen 1970er Jahren vollzog sich ein partieller Wandel von der strikten Neutralitätspolitik im Sinne der «geistigen Landesverteidigung» hin zum «Aufbruch der Schweiz in die multilaterale Welt» (Elisabeth R. Glas).

Unumstritten war eine aktivere Aussenpolitik jedoch beileibe nicht. Ein Schlüsseldokument im hier anzuzeigenden Band 26 der Diplomatischen Dokumente der Schweiz ist in diesem Kontext ein Beschlussprotokoll des Bundesrates vom 16. Mai 1973, in dem es um die Auslandsreisen der Bundesräte geht – ein Thema, welches sich durch die DDS-Bände zieht und eine eigene Untersuchung wert wäre, kristallisiert sich in dieser Frage doch der Umfang des schweizerischen diplomatischen (Nicht‐)Engagements heraus. Nach wiederholter Pressekritik an der Häufigkeit der Auslandsreisen hatte die Bundeskanzlei eine Beschlussvorlage erstellt, nach der die Bundesräte für bilaterale Besuchsreisen jeweils vor ab einen Antrag einreichen sollten. Bundesrat Hans Peter Tschudi befürwortete diese Massnahme, zugleich kritisierte er, das negative Medienecho zeige, «dass offenbar weite Kreise noch der Meinung sind, die Bundesräte sollten nicht ins Ausland reisen». Das sei «ein Ausdruck der Kleinlichkeit, der noch weit verbreitet ist» (Dok. 19, S. 63). Während sein Bundesratskollege Rudolf Gnägi Verständnis für die öffentliche Kritik äusserte und für mehr Zurückhaltung plädierte, erklärte Aussenminister Pierre Grabe, er sei zwar ebenfalls «einverstanden mit dem Gebot zur Zurückhaltung», jedoch liessen sich «diese Auslandsreisen nicht in irgendwelchen Richtlinien einfangen lassen» (Dok. 19, S. 64). Mit dem vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Antragsverfahren sei er hingegen einverstanden. Wie in einem Brennglas spiegelt das Dokument das Spannungsfeld zwischen «Selbstbezogenheit und Offenheit» (Tobias Kaestli) des Landes wider.

Freilich hatte auch die Schweizer Bevölkerung bereits erfahren müssen, dass die Neutralität sie nicht immer vor den Abgründen der internationalen Entwicklungen zu schützen vermochte. Diese traten seit Ende der 1960er Jahre vor allem im internationalen (palästinensisch-arabischen) Terrorismus zutage: mit dem Bodenangriff auf eine El Al-Maschine am Flughafen Zürich-Kloten, dem durch eine Bombe herbeigeführten Absturz einer Swissair-Maschine in Würenlingen und der Entführung einer Swissair-Maschine ins jordanische Zerqa. Ignorieren liessen sich die Palästinenser als Faktor der Nahost-Politik nicht, wie auch der Besuch Bundesrat Grabers in Ägypten im Mai 1973 zeigte. Vor den Mitgliedern der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats führte er aus, es müsse längerfristig auf ein Nebeneinander von Palästinensern und Israelis hinauslaufen. Die schweizerische Neutralität, so Graber, «impose au Gouvernement [...] une attitude d’extrême reserve et discrétion» (Dok. 14, S. 48). Gerade im Sinne der Neutralitätspolitik erschien es sinnvoll, den Palästinensern eine niedrigrangige Repräsentanz am UNO-Standort Genf zuzubilligen. Bei einem Gesprächstermin im EPD äusserte sich ein Vertreter der Fatah erfreut, dass die Schweiz es ermöglicht habe, einen palästinensischen Vertreter «mit der Tarnkappe ‹membre de la mission du Yémen› in Genf unterzubringen» (Dok. 23, S. 76). Der Forderung nach einer weiteren Aufwertung der palästinensischen Repräsentation in Genf verschloss sich die Schweiz noch bis 1975, als die UNO ihrerseits der PLO einen Beobachterstatus zubilligte. Allerdings stellte das EPD in einem Gespräch mit dem Vertreter der PLO in Genf, Barakat, im November 1975 klar, dass diese Zulassung nur auf die multilaterale Ebene in Genf und nicht auf das bilaterale Verhältnis zur Schweiz bezogen sei. Barakat führte zugunsten seiner Organisation ins Feld, dass «die PLO verschiedentlich palästinensische Splittergruppen von Attentaten, die in oder gegen die Schweiz geplant gewesen seien, [habe] abhalten können unter Verweis auf das jetzige gute Verhältnis zur Schweiz» (Dok. 187, S. 498). Ob es ein «Stillhalteabkommen» zwischen der PLO und Bundesrat Graber gab beziehungsweise «eine Art Schutzgeld an die Palästinenser bezahlt» wurde,10 ist in den letzten Jahren kontrovers diskutiert worden. Marcel Gyrs These ist aufgrund des monokausalen Erklärungsansatzes und fehlender Aktenbelege eher unwahrscheinlich.11 In diesem Sinne urteilte im Frühjahr 2016 auch eine Arbeitsgruppe des Bundes. Wie Dokument 187 nahelegt, brauchte es gar kein Abkommen, um zu einer vorsichtigen Annäherung zu gelangen.

Auch in der Phase der Détente «blieb der Kalte Krieg prägend» (Einleitung, S. XXXVIII). Neuen Aktivismus entwickelte die Berner Diplomatie im Rahmen ihres Engagements an der KSZE. Ihre konstruktive Rolle bei den Vorverhandlungen in Finnland hatte zur Konsequenz, dass Genf zum Tagungsort der KSZE-Verhandlungen bestimmt wurde, die von Herbst 1973 bis Sommer 1975 stattfanden. In einem Zwischenbericht vom August 1973 wurde die Rolle der Schweiz doppelt definiert: einerseits in der traditionellen Rolle als neutraler Vermittler zwischen Ost und West im Sinne der «guten Dienste», andererseits aber auch als «État participant soucieux de faire valoir sa conception de la CSCE» (Dok. 32, S. 102). In der Folge trat die Schweiz auch mit eigenen Vorschlägen hervor. Im Mittelpunkt stand dabei die Etablierung eines Verfahrens zur friedlichen Streitbeilegung. In den Genfer Verhandlungen rückte die Frage ins Zentrum, ob die Auslösung des Schlichtungsverfahrens verpflichtend (obligatorisch) sein sollte, wogegen sich die Supermächte USA und UdSSR wehrten. Bei einer internen Sitzung des EPD zur KSZE im Januar 1974 stellte der Rechtsberater und Delegationsleiter der Schweiz in Genf, Rudolf Bindschedler, allerdings klar, «[e]in Aufgeben des Obligatoriums würde das ganze Projekt sinnlos machen» (Dok. 57, S. 176). Als Kompromiss wurde in Genf ein Expertentreffen zur friedlichen Streiterledigung vereinbart. Am 1. August 1975 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten die KSZE-Schlussakte. Die aus diesem Anlass von Bundespräsident Graber in Helsinki gehaltene, abgewogene und realistische Einschätzung des Entspannungsprozesses ist in Gänze abgedruckt (Dok. 158, S. 430–434).

Die Annotationen sind recht kurz gehalten und beschränken sich zumeist auf Veweise auf andere Dokumente und beteiligte Personen. Insgesamt bieten die DDS ein spannendes Panorama der helvetischen Diplomatie. Hervorzuheben ist noch ein Dokument vom Februar 1974, in dem von einer Arbeitsgruppe die mögliche zukünftige Edition von Akten zur Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik diskutiert wurde. Die in einer internen Notiz des EPD geäusserte Ansicht, wonach das Projekt wohl «mit einem Leerlauf enden» (Dok. 65, S. 197, Anm. 1) werde, hat sich glücklicherweise nicht bestätigt, wie Band 26 der DDS eindrücklich belegt.

Zitierweise:
Rosin, Philip: Rezension zu: Zala, Sacha (Hg.), Diplomatische Dokumente der Schweiz, Band 26 (1. 1. 1973–31. 12. 1975), Zürich 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 166-168. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.

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